Europa schützt Rechte der Arbeitnehmer
Die Klägerin Brigitte Heinisch arbeitete als Altenpflegerin in einem Berliner Altenpflegeheim. Nachdem sie mehrmals die Geschäftsleitung auf gravierende Missstände in der Pflege - ohne Erfolg - hingewiesen hatte, erstattete sie Strafanzeige. Heinisch warf ihrem Arbeitgeber Betrug vor, denn dieser fordere das Personal auf, tatsächlich nicht erbrachte Pflegeleistungen zu dokumentieren. Zudem werde zu wenig Personal eingesetzt, weshalb die Bewohner des Altenheims nicht ausreichend versorgt würden. So hätten teilweise Heimbewohner über mehrere Stunden hinweg in Urin und Kot gelegen.
Der Arbeitgeber erkannte in der Strafanzeige eine schwerwiegende arbeitsvertragliche Pflichtverletzung und kündigte daraufhin das Arbeitsverhältnis im Februar 2005 fristlos. Das Landesarbeitsgericht Berlin folgte in seiner Entscheidung vom März 2006 dieser Auffassung und hielt die Kündigung für wirksam. Der Rechtsweg zum Bundesarbeitsgericht in Erfurt war nicht eröffnet. Eine Verfassungsbeschwerde ließ das Bundesverfassungsgericht nicht zu. Der Mut der Altenpflegerin Heinisch, die aus ihrer Sicht gegebenen Missstände öffentlich zu machen, wurde also durch den Verlust des Arbeitsplatzes bestraft.
Ganz anders als die deutschen Gerichte entschied nun der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Zwar hatten nach der Ansicht der Straßburger Richter diese Vorwürfe zweifellos eine schädigende Wirkung für den Ruf und die Geschäftsinteressen eines Altenpflegeheims. In einer immer älter werdenden Gesellschaft sei der Hinweis auf Missstände in der Pflege aber besonders wichtig. Zudem habe die Altenpflegerin Heinisch guten Glaubens die Strafanzeige erstattet. Auch deshalb dürfe sie nicht benachteiligt werden.
Nach der Kammer-Entscheidung des Gerichtshofs muss die Bundesrepublik Deutschland wegen Verletzung der Meinungsfreiheit der Klägerin nunmehr 15.000 Euro als Entschädigung zahlen. Da der Arbeitsplatz ungeachtet dieser Entscheidung nach wie vor verloren ist, kann die Altenpflegerin nunmehr versuchen, dass das Verfahren vor dem Landesarbeitsgericht Berlin wieder aufgenommen und die fristlose Kündigung für unwirksam erklärt wird.
EGMR, Urteil vom 21.07.2011
Az.: 28274/08 (Rechtssache Heinisch ./. BRD)